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Ketzereien rund ums Buch

Gehörst du zu der Mehrheit der Menschen, die versuchen alles fertigzumachen, was sie begonnen haben?

Vielleicht hast du – wie viele andere – von Kindheit an gehört, dass man das, was man beginnt, auch fertigzumachen hat. Vielleicht definierst du dich selbst auch als „Fertigmacherin“ oder „Fertigmacher“. Oder aber – und das trifft auf sehr viele Menschen zu – es ist dir gar nicht bewusst, was da abläuft. Na klar schließt du diese Aufgabe ab, wenn du sie schon angefangen hast. Keinesfalls gibst du mitten in einer Wanderung auf, wenn es ohnehin „nur“ noch zwei Kilometer bergauf bis zur angestrebten Hütte sind. Und eine Ausbildung abzubrechen, das gehört sich schon gar nicht – so sind wir schließlich nicht! Wir halten durch – egal, ob es uns gefällt oder nicht!

Denselben Maßstab legen viele Menschen auch beim Lesen von Büchern an. „Jetzt hab ich es schon angefangen, dann lese ich es auch fertig!“

Prinzipiell hat das Durchhaltevermögen eine durchaus positive Seite. Hätten wir gar keine Konsequenz, würden keine Marathons gelaufen, keine Häuser gebaut und – auch keine Bücher geschrieben.

Aber seien wir uns einmal ehrlich: Wenn du ein Buch zur Erbauung liest und es gefällt dir nicht, wieso solltest du es auslesen? Wenn du eine Serie im Fernsehen anfängst und in der dritten Folge bemerkst, dass sie dir nicht gut tut, wäre es nicht einfacher, es bleibenzulassen? Ohne Reue und Schuldgefühle? Und wenn du diese Wanderung machst und nach fünf Kilometern riesige Blasen auf den Füßen hast oder schlichtweg ausgelaugt bist, ist es dann wirklich erholsam (und das sollte eine Freizeitbeschäftigung ja sein, oder?), die restlichen drei Kilometer mit Gewalt auch noch zurückzulegen – obwohl du gerade an einer Bushaltestelle vorbeigehst und in zehn Minuten ein Bus kommt, der dich wohlbehalten an dein Ziel bringt? Auch, wenn dir die Füße qualmen und der schwere Rucksack dir mit jedem Schritt noch schwerer wird?

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Die Welt der Leistung

In der Resilienz gibt es die Begriffe „Leistungswelt“ und „Erholungswelt“.

Mehr dazu siehst du in der Grafik.

Wir neigen sehr oft dazu, die beiden Welten zu vermischen – und wenig überraschend geht das fast immer zulasten der Erholung. Wir gehen nicht gemütlich laufen, um Stress abzubauen, sondern laufen auf Zeit und im Wettkampf mit anderen. Dieser Wettkampf kann auch darin bestehen, dass wir einen schnelleren Läufer nicht einfach überholen lassen wollen, sondern versuchen, uns seinem Tempo anzupassen – nur, um dann letztendlich erschöpft und frustriert aufgeben zu müssen.

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Auch das Lesen von Büchern, die uns nicht gefallen, fällt unter das Thema „Leistung“. Denn warum sonst solltest du versuchen, „Jane Eyre“, „Krieg und Frieden“ oder ein beliebiges Buch von Michel Houellebecq zu lesen, obwohl dir auf Seite 37 schon klar ist, dass es dich nicht in seinen Bann zieht?

Warum solltest du die Serie auf Netflix fertig ansehen, nur, weil Sie deiner besten Freundin so gut gefallen hat? Mag sein, dass genau diese Serie auch super lehrreich ist, aber das muss nicht heißen, dass sie für dich (gerade jetzt) das Richtige ist.

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Die Wohltat der Verweigerung

Ich habe immer wieder versucht, Konzerte zu besuchen, einfach, weil ich gehört habe, wie großartig das sein soll. Ich hasse Menschenansammlungen und laute Musik. Und eigentlich möchte ich zumeist schon nach der ersten „Halbzeit“ gehen.

Apropos Halbzeit: Sportveranstaltungen vermeide ich ebenfalls. Einfach, weil sie mich nicht interessieren. Egal, was andere sagen. Und das Gleiche gilt für Serien. Ich liebe Serien, die lustig und intelligent sind wie zum Beispiel „Modern Family“. Wenn ich hingegen auf Leid, Gewalt und Frust treffe, bin ich eine Wolke. Manchmal steige ich nach zwei Minuten aus, manchmal erst nach einer Staffel. Auf jeden Fall aber dann, wenn ich bemerke, dass mir das Schauen keine Freude mehr macht.

Der Haufen ungelesener Bücher

Bei Büchern war das lange ein anderes Thema. Für mich sind sie etwas fast schon Heiliges.

Ein Buch in den Abfall zu werfen, das würde ich nicht übers Herz bringen. Wobei – das stimmt nicht ganz. Ein Buch habe ich tatsächlich in den Mülleimer geworfen, weil ich es so furchtbar gefunden habe.

Auf der anderen Seite habe ich einen großen Haufen ungelesener Bücher. Einerseits liegen da jene, die ich als „Fachliteratur“ bezeichne und die ich zum Nachschlagen oder Querlesen verwende. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Andererseits gibt es da jene Bücher, die ich irgendwann einmal lesen werde, wenn ich nicht mit Schreiben beschäftigt bin. Darunter befinden sich in bester Gesellschaft etliche Ratgeber, aber auch Romane meiner Lieblingsautor:innen.

Und manchmal glaube ich, dass allein der Besitz dieser Bücher mich schon ein bisschen weiser macht … aber da sind wir schon wieder mitten in der Leistungswelt!

Wie jetzt – aufhören zu lesen?

Was ich für mich feststellen konnte: Ungelesene Bücher, die ich nicht auslesen mag, stehen für mich wie eine Barriere zwischen mir und den vielen Büchern, die ich lesen möchte.
Wann immer ich in einem ungeliebten Buch gefangen bin, beginne ich manisch, mehrere andere Bücher gleichzeitig zu lesen und verfange und verstricke mich.

Im Endeffekt lese ich dann keines richtig.

So ist es – oder so war es zumindest.

Mittlerweile habe ich begriffen, dass nicht jedes Buch für jeden Menschentyp geschrieben und gemacht wurde – und wenn ich mich nicht angesprochen fühle, dann darf es weiterziehen. Bei uns in Wien gibt es hierfür den guten alten „offenen Bücherschrank“, eine Stelle, an der man zu jeder Tages- und Nachtzeit Bücher abstellen und andere mitnehmen kann.

Und so erlaube ich meinen ungeliebten Exemplaren, zu anderen Menschen weiterzuziehen, bei denen sie mehr geschätzt werden.

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Kein schlechtes Gewissen!

In meinem Artikel „Schreiben für alle Sinne“ kannst du übrigens nachlesen, warum nicht jedes Buch für jeden Menschen geschrieben ist und was unser Wahrnehmungstypus damit zu tun hat, welche Informationen wir leicht aufnehmen – und welche schwerer.

Das heißt, es gibt Menschen, die ihre Literatur sehr bildlich brauchen, andere brauchen eine Sprache, die eher kinästhetisch ausgerichtet ist und andere wiederum müssen einen gustatorischen Zugang finden.

Daher ist es relativ sinnlos, sich mit Lesestoff zu quälen, der nicht für uns gemacht ist. Also, nicht traurig sein, wenn das Buch, von dem deine beste Freundin, Ihr Chef oder der Kumpel schwärmt, für dich schlichtweg unlesbar ist. Es liegt nicht an dir!

Notiz am Rande: Ein GUTES Buch holt Menschen der verschiedensten Wahrnehmungsmuster ab. Aber das ist ein Handwerk, das über „schönes Schreiben“ hinausgeht.

Das Müssen ausmisten

Das Leben, so sagt man, kann Spuren von Müssen enthalten. Damit haben wir uns abzufinden. Doch gibt es Bereiche, in denen wir selbst entscheiden können – wenn wir uns dessen bewusst werden! Wir müssen nicht jedes Buch auslesen, nicht jede Wanderung bis zur Schutzhütte schaffen und nicht jeden Teller leer essen.

Wenn wir auf unser Inneres hören, dann wissen wir, wo wir uns noch in unserem Wohlfühlbereich befinden. Und wenn wir diesen verlassen, dann dürfen wir auch aufhören.

Lesen genießen

Auf der anderen Seite lernen wir dadurch vielleicht (wieder), das Lesen/Leben zu genießen. Und nicht nur das. Auch das Wandern, das Zusammensein mit anderen oder die Kinobesuche bekommen möglicherweise eine höhere Qualität, wenn wir darauf achten, dass wir es gerne machen und nicht, weil es angeblich entspannt.

Manchmal kann stumpfes Abhängen vor dem Fernseher, eine gestohlene halbe Stunde in der Hängematte oder ein Glas Wein mit einem besonderen Menschen erholsamer und förderlicher sein als eine Stunde Power-Yoga im Kampf mit dem Yoga-Reizdarmsyndrom oder ein Wettlauf mit anderen, bei dem es nicht einmal um die Wurscht geht.

Ein Trick von mir ist es übrigens, mich bei meinen Spaziergängen mit einem Hörbuch auszustatten. So kann ich meine Cosy Crime-Storys genießen, während ich mich langsam und bedächtig, einem Sonnenuntergang entgegen, den Berg hinaufbewege oder einfach mit flatternden Haaren über eine Wiese trotte.

Lust bekommen?

Falls du jetzt Lust bekommen hast, deine Bibliothek auszumisten und die ungeliebten Objekte an andere weiterzugeben, dann empfehle ich – sofern du in Wien wohnst – den offenen Bücherschrank. Ansonsten schlage ich vor, du machst es wie meine Schwiegermama und ihre Mitbewohner im Haus und legst die Bücher zur freien Entnahme an eine saubere, trockene Stelle auf dem Flur oder im Müllraum ab, sodass andere noch Freude haben damit!

Und falls du nun selbst ein Buch schreiben möchtest, das möglichst viele Menschen gerne lesen, dann lade ich dich herzlich ein, mir eine kurze Mail zu senden.