Das weiß doch jeder!
Tamara ist Raketenwissenschaftlerin. Ihr täglich Brot besteht darin, Treibstoffkomponenten zu prüfen, sich den Kopf über Triebwerksgeschwindigkeit zu zerbrechen und sich neue Strategien für den Zusammenbau von Steuerelementen zu überlegen.
Und nachdem ihr schnell langweilig wird und sie dringend eine Herausforderung sucht, beschließt sie, ein Buch über ihre Arbeit zu schreiben. Für ihre Familie, ihre Freunde und all jene, die ihrer Meinung nach etwas Auffrischung zum Thema Raketenwissenschaften nötig hätten. Außerdem natürlich, um ihren Expertinnenstatus zu unterstreichen und vielleicht in weiterer Folge für Vorträge an Universitäten oder Schulen gebucht zu werden.
Nachdem Tamara zwar das Expertinnenwissen über Raketen hat, aber sich mit dem Schreiben von Büchern nicht so gut auskennt, beauftragt sie einen Ghostwriter. Nach einem Kennenlerntelefonat wird ein erstes Treffen vereinbart.
Sie kommt mit ihren Aufzeichnungen, Grafiken, Diagrammen und Notizen ins Büro ihrer Ghostwriterin. Diese wirft einen Blick auf die Unterlagen, dann noch einen … und dann noch einen.
„Das müssen wir erst übersetzen!“, meint sie dann schmunzelnd.
Wie jetzt? Tamara ist verblüfft. Da steht doch klar und deutlich alles aufgeschrieben! Was ist an chemischen Formeln, Abkürzungen und Fachbegriffen aus der Raketenwissenschaft nicht zu verstehen?
„Alles!“, erklärt ihr die Ghostwriterin, nun noch breiter schmunzelnd.
Ja, bin ich denn von Trotteln umgeben?
Das ist doch Allgemeinwissen!, denkt Tamara. „Ach ja?“ Ihre Geschäftspartnerin blickt nun ernst. „Denken Sie zurück in Ihre Schulzeit. Haben Sie da schon über dieses Thema Bescheid gewusst? Und wie steht es mit Ihren Freunden, Bekannten oder Verwandten?
Ich wette mit Ihnen, wenn diese nicht im selben Bereich tätig sind wie Sie, haben sie die meiste Zeit keine Ahnung, wovon genau Sie sprechen.“
Natürlich gibt es keiner zu, denn wer will schon als unwissend entlarvt werden? Es kann auch sein, dass sie Tamara einfach reden lassen, weil sie sonst auch noch eine Erklärung bekommen, die sie erst recht nicht verstehen.
Der Curse of Knowledge
Tamara ist, wie viele vor ihr, dem Curse of Knowledge aufgesessen, dem Fluch des Wissens.
Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass das, was in unserem Kopf ist, auch unserem Gegenüber bekannt ist. Seien es Kenntnisse, Erfahrungen oder Erlebnisse.
Die Doktorandin Elisabeth Newton hat dies im Jahre 1990 in einem Experiment an der Standford University eindrucksvoll bewiesen. Das Experiment ist im Netz unter der Bezeichnung „tappers and listeners“ zu finden, und wird auch im Buch „Made to stick“ von den Brüdern Chip und Dan Heath beschrieben.
Tappers and Listeners – das Experiment
Bei diesem Experiment wurden die Teilnehmer:innen in zwei Gruppen eingeteilt: die „Tappers“, also jene, die die Aufgabe hatten, nacheinander den Takt von 25 sehr bekannten Liedern zu klopfen. Und die „Listeners“, also jene, die diese Lieder erraten sollten.
Vor Beginn wurden die „Tappers“ nach ihrer Schätzung gefragt. Wie viele Lieder würden die anderen erraten? Die Schätzungen lagen im Schnitt bei einer Trefferquote von 50%.
Nach Abschluss des Experiments wurde Bilanz gezogen – und die wahre Trefferquote lag bei heißen 2,5%. Von 40 Liedern wurde also nur jeweils eines erraten.
Wie kommt es zu dieser enormen Diskrepanz? Wir hören das Lied im Kopf spielen, während wir klopfen. Und vergessen völlig darauf, dass die anderen dies nicht hören.
In unserem Lehrgang zum Thema „Ghostwriting als Beruf“ machen wir diese Übung mit allen Teilnehmer:innen. Einfach, um sie am eigenen Leib spüren zu lassen, wie es sich anfühlt, nicht verstanden zu werden – oder, im Umkehrschluss, nicht zu verstehen, was der andere von uns will.
°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°
Als Autor:innen fallen wir leicht in die Falle der „Tapper“. Wir schreiben etwas, das für uns sonnenklar ist, die Leser:innen verstehen jedoch nur Bahnhof. Möglicherweise kennst du diese Situation auch aus dem Berufsalltag: Du schulst jemand Neuen ein und nach Abschluss deiner Anleitung passiert – nichts. Oder etwas total anderes, als du angewiesen hast. Das ist für beide Seiten frustrierend.
Die Weigerung
Doch zurück zu Tamara. Sie ist zunächst überhaupt nicht begeistert. „Aber, wenn ich da in einfachsten Wörtern vor mich hinschreibe – wer soll mich dann als Expertin anerkennen? Das liest sich doch wie von einer Volksschülerin geschrieben!“ Das klingt plausibel, oder? Und dennoch stimmt genau das Gegenteil. Diejenigen, die ein Buch lesen, wollen dazulernen. Und nicht ein Lexikon brauchen, um das Buch zu verstehen. „Easy reading“ oder „Barrierefreiheit“ lauten die Stichwörter.
Das Ersetzen von Fachbegriffen durch einfache Wörter macht Sprache schöner. Und auch Erklärungen dürfen durchaus spannend und interessant geschrieben sein. Manchmal kann man sie sogar in kleine Geschichten verpacken.
Einstein hat es irgendwann auf den Punkt gebracht, als er meinte:
„Wenn du etwas nicht so erklären kannst,
dass es ein Sechsjähriger versteht,
hast du wahrscheinlich selbst nicht verstanden!“
Fragen zulassen
Doch Tamara wäre beruflich nicht so weit gekommen, wenn sie nicht Rat von anderen Expertinnen angenommen hätte. Und so geht sie gemeinsam mit ihrer Ghostwriterin die Skripten durch. Beantwortet Fragen. Erklärt, hört sich an, was ihr Gegenüber verstanden hat, und bessert nach. Denn Fragen sind das einzige probate Mittel gegen Unwissenheit, und sie helfen, die Kluft des Wissens zwischen der Autorin und den Leser:innen zu schließen, sodass beide auf einer gemeinsamen Basis aufbauen können.
Was hat das mit dir zu tun?
Du bist möglicherweise keine Raketenwissenschaftlerin, vielleicht überhaupt keine Technikerin. Du bist vielleicht Coach, Trainerin, Lehrer, Wirtschaftstreibende. Und doch könntest du mit Tamara viel gemeinsam haben.
Du bist Expert:in auf deinem Gebiet. Du hast Jahre, vielleicht schon Jahrzehnte Erfahrung in deinem Metier, hast Ausbildungen absolviert, vieles gelernt, und dadurch hat sich dein Wissen verändert. Das ist gut so – denn dieses Wissen möchtest du ja nun mit anderen teilen.
Denk dabei aber immer auch daran, dass andere deinen Weg nicht beschritten haben. Egal, in welchem Gebiet du unterwegs bist: Du bist der Profi und kannst nicht davon ausgehen, dass andere auf deinem Stand sind. Also sei nachsichtig mit deinen Leser:innen und schreib so barrierefrei wie möglich!
Barrierefreies Schreiben – wie geht’s?
Das barrierefreie Schreiben hat verschiedene Facetten, wie zum Beispiel die Einfachheit der Wortwahl. Das heißt nicht, dass du schreiben sollst wie für einen Volksschüler, sondern, dass du dich in einfachen Worten gewählt ausdrücken sollst.
Du kannst Vergleiche einbringen, Bilder malen, schwierige Sachverhalte runterbrechen etc.
Oder du kannst dich auf deine Zielgruppe einlassen, indem du Dine so erklärst, dass sie von möglichst vielen Menschen gut angenommen werden können. Indem du alle Sinne einbaust, auf einige der unterschiedlichen Metaprogramme eingehst und komplexe Vorgänge mit Hilfe von Metaphern erklärst.
Mehr Anregungen dazu findest du in Teil 1 – Verständlichkeit und Teil 2 – Metaprogramme dieser Blogartikelserie.